Jens Dreisbach
Alles, was man mit Buchstaben tun kann.
Curriculum vitae a.k.a.
13 Weltmeisterschaften
- 1970 - Ich werde geboren. Seitdem lebe ich. Dreieinhalb Monate später findet im Aztekenstadion von
Mexiko-Stadt das Halbfinale Italien gegen Deutschland statt, das als Jahrhundertspiel in die Geschichte eingeht.
»Ausgerechnet Schnellinger« schießt in der 90. Minute den Ausgleich, in der Verlängerung fallen die Tore wie die reifen Früchte, fünf an der Zahl. Den Titel
holt Brasilien mit Pelé dem Älteren zum dritten Mal.
- 1974 - Im Familien-PKW geht es in den Urlaub. Auf der Autobahn gen Süden fange ich aus
unerfindlichen Gründen an, die Städtenamen auf den Schildern zu stammeln. Seitdem lese ich. Daheim in Germany
verliert der Westen zwar gegen den Osten, gewinnt aber insgesamt gegen die vielleicht brillantere polnische
und holländische Fußballkunst alles, nämlich den Titel.
- 1978 - Ich besuche die gleich hinter unserem Haus liegende Friedrich-Bodelschwingh-Grundschule. Die
Anforderungen sind moderat, und ich finde die Zeit, mein Panini-Heft lückenlos zu füllen. Die
Weiß-Himmelblauen haben die besten Frisuren, den Spieler mit dem besten Namen (Killer) und den adorabelsten
Stürmer (Mario Kempes). Dass Argentinien eine grausliche Diktatur war, scherte mich damals, man wird es mir nachsehen, noch nicht.
- 1982 - Die schlimmste Krankheit, die der Mensch bekommen, an der er aber medizinisch gesehen nicht
sterben kann, ereilt auch mich einigermaßen pünktlich. Das Sammelalbum wird zum zweiten Mal komplett,
allerdings weitgehend ohne die Glut des ersten Mals. Paolo Rossi verhindert, dass die falsche Mannschaft Weltmeister wird.
- 1986 - Ich verbringe den Sommer im Freibad und werde ein Drittel weniger, um endlich eine gute Figur zu machen.
Deutschland steht wie immer im Endspiel und verliert schon wieder. Und zwar gegen Diego Maradona, den Fuballgott mit
dem Faible für Sünden aller Art und Güte. Das alles interessiert mich allerdings nur am Rande, denn schließlich
stehen gewaltige Umwälzungen, mindestens die Weltrevolution, auf dem Stundenplan.
- 1990 - Eine Weltrevolution findet dann tatsächlich statt, allerdings anders als erwartet. Plötzlich ist die Mauer weg - und nur noch da, wenn der Schiedsrichter auf Freistoß entscheidet.
Die wiedervereinigte deutsche Mannschaft wird zwar nicht auf Jahre unbesiegbar, gewinnt aber in der ewigen Stadt frischen Lorbeer.
Ich leiste meinen Zivildienst, welche Zeit ich zu den schönsten meines Lebens rechne.
- 1994 - Da die Universität und ich Abstimmungsprobleme haben, verschwende ich den letzten Rest meiner Jugend und gehe auf die Straße. Ich verdinge mich
im Speditionswesen. Auch keine schlechte, mindestens eine interessante Zeit. Warum man in den Vereinigten Staaten Weltfußballturniere
austragen muss, kann kein Mensch erklären. Deutschland wird endlich für seinen Folterfußball bestraft,
Brasilien schon wieder Weltmeister.
- 1998 - Ich habe mein Studium spät, aber doch aufgenommen. Die Bibliothek des Instituts für deutsche
Sprache und Literatur mit volkskundlicher Abteilung der Universität zu Köln, einer der schönsten Orte der Welt, wird auf Jahre das Wohnzimmer
meiner Wahl. An der Wende zum neuen Jahrtausend deutetet sich endlich ein neuer Fußball an. Tempo und Technik sind auf einmal den
gepanzerten Tugenden überlegen. Die renovierten Franzosen dominieren Brasilien und greifen nach dem Titel.
- 2002 - Ich gehöre zu den letzten, die ein Studium im alten Stil abschließen. Schon toben die
»Reformen«, mit denen der Bildung die Axt an die Wurzel gelegt wird und durch die bald auch die Universität in schweres Fahrwasser gerät. Bei dem
vielleicht seltsamsten Turnier, seit es Lederbälle gibt, kommt es im Finale zum ersten Mal
zum WM-Rendezvous zwischen Brasilien und Deutschland.
- 2006 - Ich reiche meine Dissertation, Disziplin
und Moderne, Frucht jahrelanger »Einsamkeit und Freiheit«, ein. Die Karren
auf den Straßen und so manches Küchenfenster werden mit hässlichen Fahnen geschmückt,
wer Heine fälscht und zum Billig-Slogan macht, kommt ungeschoren davon. Der Stier Zidane nimmt
den Flegel Materazzi auf die Hörner, Sekunden bevor der Vorhang fällt.
- 2010 - Sechs Tage vor meinem 40. Geburtstag ändert sich die Geschichte des Universums grundlegend:
Mein Sohn wird geboren. Die erste afrikanische Weltmeisterschaft ist fußballerisch enttäuschend, sofern ich sie am
Wickeltisch aus dem Augenwinkel erhaschen kann. Deutschland spielt
den schönsten Fußball, Spanien den erfolgreichsten. Alles ist irgendwie anders ...
- 2014 - Alles bleibt irgendwie anders - kein Wunder, denn bekanntlich ist der Wandel das einzig Beständige.
Die deutsche Elf verkloppt die Seleção in der bizarrsten Partie Fußball seit der Erfindung des Lederballs dermaßen, dass
man noch bei der zigten Revision glaubt, in einem trügerischen Traum gefangen zu sein. Nach und vor der WM ist bekanntlich EM,
und im Vorfeld des alpinen Turniers 2012 kletterte mein Titel »Die Fußballnationen Europas« in die deutschen und
österreichischen Bestsellerlisten.
- 2018 - Armes Brasilien: Früher setzten Garrincha, Pelé und Sócrates den Zuckerhut unter Feuer, heute glimmt nur das kleine Licht Neymar -
der bis auf weiteres trotzdem teuerste Fußballer. Seine Ablöse ist eine Beleidigung aller Fußballliebhaber und arbeitenden Menschen: 220 oder 230 Mio. -
alles wäre okay, nicht aber der Zynismus, den Finger nicht von der 2 wegzubekommen. Chronistenpflicht: Frankreich konnte sich nur selbst
schlagen und sah ausnahmsweise davon ab. 2019 erschien mein zweites Buch über Gin (Emons), nachdem mein erstes (Komet/NGV) bereits satt abgeräumt hatte.
JeDrei