Jens Dreisbach

Alles, was man mit Buchstaben tun kann.



Disziplin und Moderne.
Zu einer kulturellen Konstellation in der deutschsprachigen Literatur von Keller bis Kafka


Deckblatt Inhaltsverzeichnis

Spätestens als ich kein Kind mehr war, sondern ein Jugendlicher, begann ich, mich intensiv für Geschichte zu interessieren, insbesondere, was liegt näher, für die jüngere deutsche Geschichte. Auf meine Fragen erhielt ich von meinen Großeltern und ihrer Generation keine Antworten oder solche, die nur noch mehr Fragen erzeugten. Also verlegte ich mich schnell auf verlässlichere Quellen aus Papier, die ich bis heute befrage und bis der Tod uns scheidet konsultieren werde, aber auch dem Lesenden recken sich bald hohe Mauern entgegen: Das, so die häufig geäußerte These, kann man nicht verstehen, egal, was man auch anstellt. Ebenso wahr ist allerdings, dass das keineswegs davon dispensiert, jene Fragen trotzdem zu stellen.

In meiner Dissertation habe ich den Versuch unternommen, nicht die Kernjahre 1933 bis 1945 direkt zu untersuchen, sondern die vorhergehende Jahrhundertwende und ihre kulturelle Konstellation zu analysieren. Geschichtliche Abschnitte sind nie isoliert, sondern folgen auf andere, sind auf verschlungene, oftmals kaum entzifferbare Art und Weise miteinander verbunden. Alain Badiou hat etwa zeitgleich auf die Bedeutung der Jahrhundertwende für das folgende Jahrhundert hingewiesen: "Geben wir zu, daß unser Jahrhundert dasjenige ist, in dem [...] die Politik zur Tragödie geworden ist. Was hatte am Beginn des Jahrhunderts, im goldenen Schwung der »Belle Époque«, eine solche Sicht der Dinge vorbereitet? Im Grunde ist das Jahrhundert von einem bestimmten Moment an von der Idee besessen gewesen, den Menschen zu verändern, einen neuen Menschen zu schaffen. [...] [D]as Projekt des neuen Menschen [ist] eines des Bruchs und der Gründung, das in der Ordnung der Geschichte und des Staats derselben subjektiven Tonart angehört wie die wissenschaftlichen, künstlerischen und sexuellen Brüche am Beginn des Jahrhunderts. Man kann also der Meinung sein, daß das Jahrhundert seinem Prolog treu war." (Alain Badiou, Das Jahrhundert, 2006)

Um die Jahrhundertwende gibt es einen Bruch im Kontinuum der Kultur. Diesen Bruch habe ich, inklusive seiner Vorgeschichte von der Revolution 1848/49 und bis hin zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, verfolgt, und zwar in der deutschsprachigen Literatur der Zeit. Die konsultierten Dichter sind weder Wegbereiter noch Protofaschisten, sondern gut geeichte Seismographen, die die tektonischen Verschiebungen der Kultur vorzüglich aufgezeichnet haben.

Die vorhergegangenen Jahrhunderte waren jene des disziplinierten Bürgers, um 1900 wird dieses Gesellschafts- und Kulturprogramm jedoch auf breiter Basis abgelehnt und bekämpft. Die bürgerliche Disziplin hat ihre Bindungskraft verloren, sie steht beispielsweise im Verdacht, die Menschen nicht mehr gesellschaftsfähig, sondern jetzt neurotisch zu machen. Also erscheint vielen Zeitgenossen der Erste Weltkrieg zunächst als ein Versprechen, nämlich jenes, die Fesseln der Disziplin gewaltsam sprengen zu können. Die sogenannte Augustbegeisterung 1914, als die Ex-Bürger sich auf dem Weg in eine neue Freiheit wähnen, ist das erstaunlichste Phänomen des Kulturbruchs 1900. Der Rest ist Geschichte.


Meine Dissertation Disziplin und Moderne (LIT Verlag, Münster/Berlin 2009) ist mit dem Preis der Offermann-Hergarten-Stiftung zur Förderung besonderer geisteswissenschaftlicher Leistungen 2010 ausgezeichnet worden.

Laudatio des Stiftungsgremiums:

"In Jens Dreisbachs germanistischer Dissertation Disziplin und Moderne. Zu einer kulturellen Konstellation in der deutschsprachigen Literatur von Keller bis Kafka wird Kultur in erster Linie als ein Mechanismus der Trieborientierung und also der Disziplinierung des eigenen Ich in den Blick genommen. Mit Rekurs auf Kant, Nietzsche, Freud, Gehlen und Foucault zeigt Dreisbach überzeugend auf, dass nur ein komplexer Mechanismus kultureller Disziplinartechniken die seit Beginn der Neuzeit verbreiteten gesellschaftlichen Aggressionen und Ängste habe bändigen können. Ist so der theoretische Rahmen souverän gespannt, steht im Zentrum der Arbeit die literarische Darstellung und Kritik des modernen Disziplinarregimes in den Texten Gottfried Kellers, Wilhelm Raabes, Hugo von Hofmannsthals, Frank Wedekinds, Robert Walsers und Franz Kafkas. Die präzise und originelle Lektüre der ausgewählten Texte arbeitet stringend argumentierend heraus, wie die Literatur der Moderne eine von Keller bis Walser immer schärfere Kritik der Disziplin entwickelt."


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